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Nochmals K. 2002: Ein Titel - was ist das? (II)

   Also immer wieder massive Kritik an K. 2002. Ist das berechtigt? Aber
ja. Dieses Verzeichnis ist für mich keine Feierabendlektüre. Wie gesagt,
ich arbeite derzeit nicht nur gelegentlich damit. Zum Glück hänge ich
aber davon nicht ab. Im übrigen muß man lernen, wie man mit diesen 602
Seiten im Sinne eines "positiven Quellenwerks" umzugehen hat. Denn
jenseits aller Mängel kann K. 2002, wie ich schon weiter oben angedeutet
habe, in vielen Bereichen auch dienlich sein. Ich denke da zum Beispiel
an Inhaltsbeschreibungen (Ballette, Opern usw.), ebenso sind viele
Ausführungen musikalischer und musikgeschichtlicher Einzelheiten und
Zusammenhänge (zumindest für mich) hilfreich. Doch Vorsicht, da lauern
immer wieder Stellen, bei denen man sich fragt, warum sie eigentlich
geschrieben wurden. Manche wirken wie Hinterhalte, vielleicht auch wie
Tretminen. Diese kommen bevorzugt dann vor, wenn es sich für K. ergibt,
ideologisch austeilen zu können. K. ist zudem ein "großer" Meister der
absichtsvollen Harmlosigkeit. Wie nebenbei wird versucht, Grundsätz-
liches einzuträufeln. Zu alldem drei Beispiele. Im Kapitel "Rag-time"
(so die Kapitelüberschrift, fortlaufende Seitenüberschrift "Ragtime",
siehe auch weiter unten) liest man auf Seite 210: "Jazz beschränkte sich
für ihn [Strawinsky] auf den [sic] Blues und zugehörig dazu auf die von
ihm geradezu verabscheute Improvisation..." Eine seltsame Passage, die
übrigens noch ein paar weitere seltsame Zeilen umfaßt. Man fragt sich
allen Ernstes: "... beschränkte sich für ihn auf den Blues und zugehörig
dazu auf die [...] Improvisation", was soll das sachlich eigentlich
heißen? Mir ist das zu verquer. Für eines braucht man aber wohl keine
Übersetzung, denn das unreflektierte, uneingeschränkte (oder uneinge-
schränkt übernommene) Stichelei-Gerede ist hier doch noch recht offen-
kundig ausgefallen. Unterschwelliger wird's jetzt, Seite 222 (Drei
Stücke für Soloklarinette): "... bei denen Strawinsky nach außen hin den
Eindruck von Improvisation erzeugt, die aber wegen der SORGFÄLTIGEN
MOTIVKONSTRUKTION nur scheinbar ist." Die Hervorhebung ist von mir,
somit ist denn auch wohl nicht mehr nötig, einen vornehmen Klartext
anzubieten. Kurz gesagt, gemeint ist das: Diese armseligen Improvisato-
ren, diese Oberdeppen. Und nun ein Meisterstück (Seiten 380/381): "Diese
Art von Arbeiten [Tango, Ebony Concerto usw.] im Umfeld einer eher sub-
kulturellen Massenmusiksprache..." Fällt Ihnen hier noch irgendetwas
ein? Mir beim besten Willen nichts, zunächst mal nichts. "Negermusik",
wie in K. 1958 verwendet (siehe weiter oben), gibt's jetzt offenbar
nicht mehr (gut so, denn von "Negerküssen" und "Mohrenköpfen" sollten
manche wirklich die Finger lassen), aber das übersetzte Pendant davon
gibt's doch noch: Schwarzen-Musik. Allerdings an "Negerbands" kam K.
2002 dann doch nicht vorbei. Und natürlich gibt's auch "Jazzmusik",
"Jazz-Musik", "Jazzstil" (alles auf S. 428). Gerechterweise muß aber
erwähnt werden, daß auch "Jazz" vorkommt. Ein Lieblingsnebelausdruck
scheint "subkulturell" zu sein: "im subkulturellen Bereich" (S. 231,
siehe auch oben). Und man staunt über "die mehr populär orientierte
Strawinsky-Literatur" (S. 226). Wo glaubt denn der erhabene K. sein Opus
K. 2002 einreihen zu wollen? Schluß mit alldem, man kann es nicht mehr
sehen, hören (falls Synästhesie vorliegt: riechen, schmecken).
   Zur "Schwarzen-Musik" usw. eine Anmerkung noch: 1976 habe ich in den
USA im Rahmen meiner Lester Young-Erkundungen Interviews geführt und
aufgenommen. Muß man denn wirklich so etwas erst praxis- und seelennah
erlebt haben, um eine Ahnung davon zu bekommen, wie kompliziert und
hochsensibel das ganze "rassische Territorium" ist? Immerhin, auf Seite
428 findet man die Aussage "mit dem Afrikanischen als Ausdruck der afro-
amerikanische Kultur identisch". Ich weiß zwar nicht, was das eigentlich
sagen soll, aber die Begriffe sind wenigstens schon in etwa passabel,

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auch wenn sie nicht mehr überall den besten Ruf genießen und im übrigen
immer noch im "rassischen Denken" verhaftet sind. Das ist die crux, die
via dolorosa.
   Ich denke, gegen das Kirchmeyer-Strawinsky-Jazz-Syndrom könnte viel-
leicht das folgende homöopathische Mittel helfen: Ein Zitat aus Alfred
Appel jr., Jazz Modernism from Ellington and Armstrong to Matisse and
Joyce, 2002 (der Einfachheit wurde als Quelle eine Internet-Wiedergabe
gewählt, der originale Wortlaut mag also unter Umständen hier und da
etwas anders sein). Strawinsky benimmt sich zwar etwas seltsam im Jazz
Corner of the World, aber es interessiert mich - bei all meiner Skepsis
der Bird-Mechanik gegenüber - doch immer sehr, sowas hin und wieder zu
lesen (www.JerryJazzMusician.com):

      Charlie Parker enthusiasts circa 1950 often declared
   him the jazz equivalent of Stravinsky and Bartók, and
   asserted that he'd absorbed their music, though skeptics
   countered that there was no evidence he was even familiar
   with it. Parker himself clarified the issue for me one
   night in the winter of 1951, at New York's premier modern
   jazz club, Birdland, at Broadway and Fifty-second Street.
   It was Saturday night, Parker's quintet was the featured
   attraction, and he was in his prime, it seemed. I had a
   good table near the front, on the left side of the band-
   stand, below the piano. The house was almost full, even
   before the opening set - Billy Taylor's piano trio -
   except for the conspicuous empty table to my right, which
   bore a RESERVED sign, unusual for Birdland. After the
   pianist finished his forty-five-minute set, a party of
   four men and a woman settled in at the table, rather
   clamorously, three waiters swooping in quickly to take
   their orders as a ripple of whispers and exclamations ran
   through Birdland at the sight of one of the men, Igor
   Stravinsky. He was a celebrity, and an icon to jazz fans
   because he sanctified modern jazz by composing Ebony
   Concerto for Woody Herman and his Orchestra (1946) - a
   Covarrubias "Impossible Interview" [click here] come true.

      As Parker's quintet walked onto the bandstand, trum-
   peter Red Rodney recognized Stravinsky, front and almost
   center. Rodney leaned over and told Parker, who did not
   look at Stravinsky. Parker immediately called the first
   number for his band, and, forgoing the customary greeting
   to the crowd, was off like a shot. At the sound of the
   opening notes, played in unison by trumpet and alto, a
   chill went up and down the back of my neck. They were
   playing "Koko", which, because of its epochal breakneck
   tempo - over three hundred beats per minute on the metro-
   nome - Parker never assayed before his second set, when
   he was sufficiently warmed up. Parker's phrases were
   flying as fluently as ever on this particular daunting
   "Koko". At the beginning of his second chorus he inter-
   polated the opening of Stravinsky's Firebird Suite as
   though it had always been there, a perfect fit, and then
   sailed on with the rest of the number. Stravinsky roared
   with delight, pounding his glass on the table, the upward
   arc of the glass sending its liquor and ice cubes onto
   the people behind him, who threw up their hands or
   ducked. The hilarity of the audience didn't distract

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   Parker, who, playing with his eyes wide open and fixed on
   the middle distance, never once looked at Stravinsky.
   The loud applause at the conclusion of "Koko" stopped in
   mid-clap, so to speak, as Parker, again without a word,
   segued into his gentle version of "All the Things You
   Are". Stravinsky was visibly moved. Did he know that
   Parker's 1947 record of the song was issued under the
   title "Bird of Paradise"?

      ["Bird of Paradise": Eingespielt für Dial, mit Miles
   Davis, New York City, 28. Oktober 1947. Eine bedeutsame
   Sitzung, 14 Aufnahmen (Takes) sind überliefert, von "Bird
   of Paradise" drei, sie haben die Matrizennummern D-1105-
   A, D-1105-B, D-1105-C. Direkt vor "Bird of Paradise"
   wurde ein Stück aufgezeichnet, das man wie "Ko-Ko" vom
   Tempo her ohne allzu große Zweifel als Jesse-Owens-, Joe-
   Lewis-Hochleistungssportereignis oder auch als selbstver-
   gessene Chevy chase empfinden kann. Hier zeigt's einer
   der Welt, daß er unvergleichbar was drauf hat und ebenso
   unvergleichbar fix mit den Fingern ist ("a tour de force,
   metronome 310, after the manner of his famous Koko" sagt
   Ross Russell in seinem Buch Bird Lives! dazu (siehe
   unten, S. 250). Zwei Takes existieren von dieser Virtuo-
   so-Hatz, beide wurden auf 78er Pressungen gleicher (!)
   Bestellnummer (Dial 1056) dreifach (!) herausgebracht.
   Dreifach zwar, doch unter zwei (!) Titeln. Zum einen
   zweimal als "The Hymn": Take A mit der Matrizennummer
   D-1104-A einerseits und Take B mit der Matrizennummer
   D-1104-B andrerseits. Und drittens in Form des eben
   erwähnten Take B, diesmal aber unter dem sicherlich
   nicht weniger seltsamen, sprich: anspruchsvollen, aber
   wohl tempogerechteren Hinweistitel "Superman".
      Der Besitzer und Aufnahmeleiter der Plattenfirma, des
   "Etiketts", wie es im Jazz-Jargon heißt, war der bereits
   erwähnte, auch "Neue Musik" (siehe unten Dial LP 10)
   produzierende Jazz-Journalist und spätere Parker-Biograph
   Ross Russell, dessen Kontakt zu Robert Craft, dem Musik-
   vertrauten und Tag-und-Nacht-Sekretär Strawinskys, doku-
   mentiert ist, wie offenbar beide auch zu Peter Bartók
   (Bartók Records) in irgendeiner näheren Beziehung standen
   (siehe hierzu am Schluß dieses Einschubs eine Spekula-
   tion).
      Appels "Bird of Paradise"-Luftrolle (es könnte über
   den "Feuervogel" ein Bezug zu Strawinsky angedeutet sein)
   ist gewagt, doch Überlegungen sicher wert, nur gibt es da
   einen gewaltigen Haken. Den deutlich zu machen, soll hier
   versucht werden.
      Vor den oben angegebenen Aufnahmen sind drei weitere
   Stücke eingespielt worden: "Dexterity", damit begann die
   Session (Take A und B; Take B auf Dial 1032, gekoppelt
   mit "Bird of Paradise"), es folgten "Bongo Bop" (auf Dial
   1024) und "Dewey Square" (drei Takes; Take C, Matrizen-
   nummer D-1103-C auf Dial 1019; zu Take A, Matrizennummer
   D-1103-A siehe unten). Manch einer mag vielleicht meinen,
   die Titelgebungen seien beliebig. Das ist nicht so. Dewey
   Square: Bird war mit Doris Sydnor ins Dewey Square Hotel,
   New York City, 117th Street, eingezogen (Heirat 1948 in
   Tia Juana, Mexico). Dexterity: Ein Wortspiel, es erinnert

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   an die Heimatstadt Kansas City. Dave Dexter, Jr., ein
   engagierter Zeitschriften- und Rundfunkjournalist, begann
   von dieser Stadt aus seine Jazzförderung, auch die Birds
   (vgl. u.a. Down Beat-Hefte der Zeit und Dexter, Jazz
   Cavalcade, siehe unten, ein sicherlich grundlegendes
   Buch, geschrieben im Jazz-Geist der Zeit, ein Dokument
   der irreal-realen Swing-Hipster-Welt, Vorwort von Orson
   Welles). Zudem sind in "Dexterity" an Prez (Lester Young)
   erinnernde Klänge weiß Gott nicht zu überhören, somit ist
   dies also ein weiterer, ein gewichtiger Rückbezug auf
   Kansas City. Und "Geschicklichkeit", "Gewandtheit" im
   Spiel, und wenn man es so sehen will: "Fingerfertigkeit",
   das sind Eigenschaften, die Parker seinem Prez-Idol mit
   Sicherheit wie kaum einem anderem zugesprochen haben
   dürfte (Bird soll Soli Prez' in- und auswendig gekannt
   haben, das belegen sehr deutlich auch Aufnahmen). Und
   damit sind wir wieder bei "Dewey Square", dessen Take A
   (Matrizennummer D-1103-A, zu Take C siehe oben) auf der
   schon erwähnten "Superman"-Dial 1056 mit drauf ist -
   allerdings unter dem Titel "Prezology". "Prezology"
   (D-1103-A) und "Superman" (D-1104-B) als Kopplung auf
   einer (!) Platte. Genauer: Nach den Matrizennummern zu
   urteilen, ist "Prezology" als die Vorderseite der 78er
   (als die A-Seite) anzusehen und "Superman" als die
   B-Seite, als eine fußnotenartige Ergänzung bzw. Verdeut-
   lichung sozusagen. Hier ist zu empfehlen, sich von diesem
   Befund zunächst unabhängig zu machen, keinen vorschnellen
   Gedankengängen Raum zu gewähren, sich aber dennoch zu
   vergegenwärtigen, welch eine herausragende Wertschätzung
   die Szene Prez gegenüber hegte und plegte. Lady Day
   (Billie Holiday) wußte, was sie tat, als sie den Spitz-
   namen "Prez" (Kurzform von President) vergab, "Prez"
   bedeutete Autorität und Priorität. Dagegen war in den
   Hipster-Zirkeln sogar der weltbekannte Weltmann Strawin-
   sky eine Gestalt sekundärer Art. Und damit, mit diesem
   Justieren der Perspektiven, ist hoffentlich der "gewal-
   tige Haken" deutlich geworden, der bei einer (zu eiligen)
   Verknüpfung von "Bird of Paradise" mit Strawinsky durch
   näheres Hinsehen zum Vorschein kommt.
      Und auch der dritte Titel, "Bongo Bop", weist auf
   Inhalte hin, er erinnert an afro-lateinamerikanische
   Bezüge. Eine sehr starke und denkwürdige Aufnahmensitzung
   also. Was man zudem auch sieht, ist, wie das hier dis-
   kutierte Thema "Titelgebung" auch ganz andrerorts eini-
   ges an Gewichtigkeit zu bieten hat. "Bird of Paradise":
   Ein Rätsel sicherlich, über das sich aber nachzudenken
   lohnt. Wohl ein schillerndes Etwas. Ein "Bird of
   Paradise" eben.
      Eines sei mit Nachdruck gesagt: Dies hier ist eine
   Skizze, und es wird nicht bestritten, daß es zahlreiche
   Probleme gibt. So ist meines Wissens z.B. die genaue
   Herkunft der Titelgebungen nicht geklärt. Russell sagt in
   Bird Lives! dazu (S. 252): "Usually I dreamed up some
   kind of a title when it was time to release the record."
   Ganz gleich aber welche Ergebnisse weiterführende doku-
   mentarische Forschungen bringen sollten, inwieweit also
   Parkers Urheberschaft, Mittun, Einwilligung und derglei-
   chen bestätigt oder nicht bestätigt werden kann, am Geist

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   der "Bezug-Session" ändert das sicherlich nichts Wesent-
   liches. Sehr betont sei auch, daß bei derartigen Über-
   legungen rund um diese Titelgebungen hier, bei Ableitun-
   gen und Interpretationen, auf keinen Fall ununtersucht
   bleiben darf, inwiefern und inwieweit bei der Erstellung
   der Titel star-narzistische Ego-Charakterzüge eine Rolle
   gespielt haben könnten, gerade bei Charlie Parker; man
   denke allein an "BIRD of Paradise". Immerhin, eine wich-
   tige Tatsachen-Kolorierung, das Moment "Lestorian Mode",
   ist auditiv, rein musikalisch, durch "Dexterity" hinrei-
   chend gesichert.
      Und zu guter Letzt, weiter mit "Bezugsmöglichkeiten":
   Wie oben gesagt, "Bird of Paradise" beruht auf "All the
   things you are" (Musik: Jerome Kern, Text: Oscar Hammer-
   stein II, 1939), es ist das vorletzte Stück der Session
   (drei Takes), eine sogenannte Ballade, eine nachdenkliche
   Musik mit einem nicht gerade inhaltslosen Titel. Ja, und
   dann die letzte Einspielung, eine weitere Alt-Botschaft
   in Bop-Harmonie, eine Huldigungsballade: "Embraceable
   you" (zwei Takes: D-1106-A, D-1106-B; Musik: George
   Gershwin, Text: Ira Gershwin, 1930). EMBRACEABLE YOU!
      Es steckt also offenbar einige Überlegung in diesem
   Einspielungsprojekt, da schimmert wohl in Birds kurzer
   und tragischer Bio ein künstlerisch befriedigender Augen-
   blick durch. Schemenhaft oder überdeutlich, es scheint
   im Oktober 1947 ein Bird of Paradise, ein Paradiesvogel,
   sichtbar gewesen zu sein, ein Geschenk des Himmels. Wieso
   dann der Titel "The Hymn" für eine Uptempo-Nummer? Jive,
   Hip-Wurstigkeit, Traumbrechung, Ironie, Spott? Und der
   Fragen mehr...
      Doch bei alldem: Man verliere nie aus den Augen, daß
   der Produzent Ross Russell ein in Künsten und Geschäften
   sehr gescheiter Mann war, zudem höchst eloquent. Und daß
   etliche andere Parker-Einspielungen für Dial ebenfalls
   Titel haben, die einen kritischen Blick verdienten, vor
   allem jene, die unaufhörlich um Parkers Person kreisen
   und fast alle Anspielungen und übertragene Sinnzusammen-
   hänge aufweisen, z.B. Bird Feathers (Parker - Leonard
   Feather), weitere solcher Titel sind: Yardbird Suite,
   Bird Lore, Bird's Nest, Bird's Nest Soup, Carvin' the
   Bird, Charlie's Wig, Crazeology, Ornithology, Quasimodo,
   Relaxin' at Camarillo). In späterer Zeit, nach der Dial-
   Zeit, taucht dann auch Anthropology auf. Wer ist hierfür
   verantwortlich? Und was ist denn damit gemeint? Hybris
   oder was? Vergottung oder Sarkasmus der Hipsters, hip
   chicks und hangers-on pur? Heroin shot? (Und natürlich
   gibt's auch noch Aufnahmen auf anderen Etiketten: Savoy,
   Clef usw., Blicke dorthin unterbleiben hier).
      Von Russell stammt im übrigen der erste tiefer schür-
   fende ("analytische") Artikel über Lester Young (April
   1949, siehe unten).
      Nun noch die oben angesprochene Überlegung zu der
   Strawinsky-Gruppe, die Appel im Birdland erlebte, es ist
   reine Fantasie: Unter den "four men and a woman" könnten
   neben Strawinsky und vielleicht Vera Strawinsky und
   Robert Craft durchaus auch Ross Russell und Peter Bartók
   gewesen sein. Denn: Wie kam Strawinsky ins Birdland und
   wie kam es zu dem "RESERVED", das alles auch noch so

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   gezielt orientiert für das featured second set?

   Literatur:

   Dave Dexter, Jr., Jazz Cavalcade, The Inside Story of
      Jazz
      New York 1946 (Criterion), XI, 258 S., Ill., Vorwort
      von Orson Welles

   Jørgen Grunnet Jepsen, A Discography of Charlie Parker
      Kopenhagen 1968 (Knudsen), 38 S.
      Anmerkung: Die Diskographien von Wiedemann und Jepsen
      gelten als überholt, so ganz sind sie es aber nicht!

   Robert George Reisner, Bird: The Legend of Charlie Parker
      New York 1962 (Bonanza), 256 S.
      Enthält: Discography by Erik Wiedemann, S. 241-256

   Ross Russell, be-bop, reed instrumentation, 1, The Parent
      Style, Lester Young [Titelgebung graphisch frei ge-
      staltet]
      In: the record changer, New York, April 1949 (8/6),
      S. 6, 7, 20, Ill.
      Anmerkung: Der Artikel fehlt unverständlicherweise in:
      Lewis Porter, A Lester Young Reader, Washington and
      London 1991 (Smithsonian Institution Press), XIII,
      323 S., Ill.

   Ross Russell, Bird Lives! (Nebenuntertitel, S. [IX]: The
      High Life and Hard Times of Charlie 'Yardbird' Parker;
      Copyright: 1972 by Ross Russell)
      London 1973 (Quartet Books), VIII [IX], 404 [405] S.,
      Ill., Auswahlliteraturliste, Diskographie von Tony
      Williams (mir vorliegende Ausgabe: Paperback)

   François Ziegler, Dial Records Listing (Stand: 17. Januar
      2000, www.jazzdiscography.com/Labels/dial.htm)

   Schallplatten:

   Bartók Records PB 001 (30 cm LP, aufgenommen Ende 1948
      oder Anfang 1949 in New York City, erschienen 1949)
      Titel: Unbekannt (Interpreten: New Music String
      Quartet = New York String Quartet)
      Werke: u.a. Strawinskys Drei Stücke für Streichquar-
      tett
      Produzent: Peter Bartók (PB = Peter Bartók, 001 =
      erste LP, auch veröffentlicht ca. 1951 auf Bartók
      Records BRS 901 und spätestens 1952 in Frankreich
      auf Classic C 6119)

   Dial 10 (30 cm LP, aufgenommen 1949 in New York City,
      erschienen 1950)
      Titel: Stravinsky / Renard
      Werke: Renard, Suite No. 1 für kleines Orchester, Song
      of the Volga boatmen, Elegy für Viola (Bernard Milof-
      sky, Mitglied des Pro Arte Quartet), Berceuses du chat
      (Ensemblefassung, Arline Carmen)

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      Dirigent: Robert Craft, Produzent: Ross Russell.]

   Nach diesem langen Einschub nun wieder zurück zu den Äußerungen, die
Kirchmeyer in seinem zu oft konfusen und unprofessionellen Verzeichnis
von 2002 dem Jazz gegenüber an den Tag legte. Sogar von "Subkultur" ist
da die Rede, unglaublich.
   Es wirkt auf mich fast Gänsehaut erregend. Immer wieder trifft man
auch heute noch auf diesen sattsam bekannten Odem eines verzogenen,
ungezogenen Elitärbewußtseins, das sich ganz offensichtlich durch eine
gewisse partielle Blindheit und ein überdeutlich eingeschränktes Hörver-
mögen "auszeichnet". Ich hoffe, daß es mir noch gelingt, derlei Zuberei-
tungen samt eines besonders haarsträubenden Falls und dessen Folgen
vorstellen zu können. Und dazu gehört auch der ungetrübte Blick dafür,
was für ein seltenes Früchtchen Theodor W. Adorno in diesen Sachen war.
Aber klar doch - auch K. 2002 hat was gegen Adorno, nur kommt es eben
hierbei sehr auf das Was an. Doch das sei jetzt, wie es sei, in Nieder-
geschriebenem von A. und K. jedenfalls findet sich bei aller diametralen
Gegensätzlichkeit zumindest eine Gemeinsamkeit, und das ist dieser
modernistisch maskierte, vernebelte, zugenebelte altautoritäre Zentris-
mus. Genauer gesagt, es ist nicht zu übersehen, in den mir bekannten
Äußerungen beider über Jazz und Jazzverwandtes kann man ohne Zweifel (um
mit Adorno zu reden - im Fall Adornos ist das unbeschreiblich peinlich)
wesentliche Symptome der "Authoritarian Personality" ausfindig machen.
   Das (entwicklungsbedürftige) Register in K. 2002 enthält einen (nur
einen einzigen) Verweis auf Adorno, aber es gibt mindestens noch eine
zweite Stelle und genau diese Stelle ist sehr interessant. Ich finde sie
nur leider nicht mehr. Es wird nämlich der von K. so innig geliebte Karl
Marx mit auf den Plan gerufen. Zur Erinnerung: Der Titel von K. 2002
beginnt mit "Kommentiertes Verzeichnis..." Doch, doch, "Igor Strawinsky"
kommt schon noch im Titel vor, wie Sie ja wissen (Kleingedrucktes
hierzu: In principio erat Verbum et Verbum erat apud...).
   [Die wunderhübsche Adorno-Stelle befindet sich auf S. 378, Symphonie
in C, Absatz "Bedeutung": "... für die seriöse Strawinskybeurteilung,
die also nicht von den prinzipiell feindseligen marxistischen Adorno-
thesen ausgeht..." (Ich danke Louis Cyr für den Hinweis.)]
   Daß sich ein Professor der Musikwissenschaft in seinem Fach auskennt,
sollte man eigentlich voraussetzen dürfen. Um so verständnisloser wirkt
die zu oft schwache dokumentarische, philologische Leistung, die sich K.
bei Strawinsky (wiederum) erlaubte. Auf den Seiten [3] und [4] des Werks
findet man Hinweise, die mir angesichts meiner Lese- und Arbeitserfah-
rung fast die Sprache verschlagen. K. 2002 ist, so steht da, erschienen
in der Reihe der "Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaf-
ten zu Leipzig - Philologisch-historische Klasse" (welche Stufe bitte?),
gedruckt "mit Unterstützung des Freistaates Sachsen (Sächsisches Staats-
ministerium für Wissenschaft und Kunst)" und dann wird noch ergänzt -
auf daß auch der letzte Wer-auch-immer zitternd erschauern möge -:
"Prof. Dr. Helmut Kirchmeyer / Korrespondierendes Mitglied der Sächsi-
schen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig".
   Ich bin ein korrespondierendes Mitglied Conspirationis Infidelium.
Amen.
   Ach, da ist noch was: Ein Verzeichnis (ein eher vorläufiges zudem,
wie der Autor ja verkündet) auf Glanzpapier zu drucken, zeugt für
Sachkenntnis. In meinem Exemplar nehmen die Bleistifteintragungen stetig
zu. Und natürlich muß ich auch radieren. Einen halbwegs brauchbaren
Radiergummi zu finden, war ein kleines Kunststück. Doch das mußte sein,
denn das Geschmier ging mir zunehmend auf den Geist. Wie auch immer,
welch ein Radiergummi auch immer, selbst der Buchdruck ist halbherzig.
Er läßt sich locker blaß- (oder sogar fast weg-)radieren.

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   Ein Verzeichnis also nicht nur für den Papierkorb, sondern auch für
Ausstellungsvitrinen? Bütten hätte sich gut gemacht.


DP, 3.9.2004



Anmerkung 1: Erbsenzählen

   Eine fehlerlose musikwissenschaftliche "Datensammlung" gibt es wohl
nicht, kann es vielleicht gar nicht geben. Deshalb sollte selbst bei zum
Verkauf angebotenen Werken dieser Gattung, bei Handelsware also, einige
Nachsicht walten, das gilt insbesondere für Erstausgaben von Verzeich-
nissen - und bezüglich Kleinstdetails allemal. Doch bei allem Verständ-
nis: Im Fall des kommentierten Werkverzeichnisses von Helmut Kirchmeyer
(hier "K. 2002" genannt, Einzelheiten siehe weiter oben) wächst sich,
soweit "Dokumentarisches" betroffen ist, die Verunsicherung immer mehr
aus.
   Ich beschäftigte mich unlängst wieder mit der nur über den Leihver-
kehr erhältlichen Dirigierpartitur der Orchesterfassung der Trois
petites chansons. In K. 2002 steht: Copyright "1934 durch den Russi-
schen Musikverlag in Berlin..." Die Angabe der Jahreszahl 1934 bedarf
aber sehr einer erklärenden Fußnote. Und diese sollte sich auch gleich
auf die ergänzende Aussage "keine Ausgabe [der Trois petites chansons]
vor 1934 trägt einen Copyright-Vermerk..." beziehen.
   Kaum jemand dürfte großes Interesse verspüren, die Angaben der Abmes-
sungen (Höhe x Länge) zu den zahllosen Notenausgaben überprüfen zu
wollen. Nun stimmt aber die (einfach mal so aus lauter Lust an der Tol-
lerei überprüfte) Angabe "24 x 32,4" für das von mir eingesehene Exem-
plar der Dirigierpartitur nicht (Maße: ca. 26,5 x 34). Auch die Seiten-
angabe "14 S." ist so nicht sinnvoll, sie bezieht sich nur auf die
numerierten Seiten. Auf diese Weise bleibt eine wichtige unnumerierte
Seite unberücksichtigt. Das ist eine bibliographische Nachlässigkeit,
auf die man allerorten trifft. Ein Symptom für mangelndes (Problem-)Ge-
spür, im Grunde für Desinteresse? Im antiquarischen Geschäft ist man da
vielfach schon weiter (gute und schlechte Beispiele findet man mit Hilfe
der Web-Seite www.zvab.de).
   (Randnotiz: Der Titelvorspann, der in K. 2002 zu den Trois petites
chansons angeboten wird, ist, wie gewohnt, fehlerhaft und zeigt zudem
die oben angesprochene Urkundenferne. Und zu guter Letzt: Die eigentiche
Abhandlung enthält weitere dokumentarische Fehler, leider auch etwas
kapitale.)


DP, 17.3.2005



Anmerkung 2: Der Russe

   Im Buch K. 1958 (Helmut Kirchmeyer, Igor Strawinsky, Zeitgeschichte
im Persönlichkeitsbild...) gibt es seltsam oder auch unheimlich wirkende
Stellen (siehe dazu weiter oben). Im Kapitel Les noces des Verzeichnis-
ses K. 2002 (siehe ebenfalls weiter oben) fand ich auf Seite 265: "Dabei
haben die Farben für den Russen immer auch eine poetische Nebenbedeu-
tung..." Sicherlich, der Ausdruck "der Russe" kommt in einem positiven
Zusammenhang vor, aber ist er angesichts der in K. 1958 vorgefundenen

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Intro 2002 ff.                                                 Seite A46
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Formulierungen nicht doch merkwürdig?


DP, 30.3.2005



Anmerkung 3: Negermusik

   "Negermusik" gibt's in K. 2002 doch noch, meine Hoffnung (siehe oben)
war umsonst. Kapitel "Geschichte vom Soldaten", S. 203 unten, dort heißt
es bezogen auf die Trois Danses:
   "Alle drei Tänze sind in besonderem Maße sexuell-erotisch gekenn-
zeichnet, der Walzer als erster Paartanz, bei dem der Mann seine der
Mode entsprechend dekolletierte Tänzerin in die Arme nehmen und anfassen
durfte, der um 1910/1911 nach Europa gekommene Tango als offiziell für
unsittlich erklärter, anrüchiger argentinischer Modetanz, der es zuließ,
die Unterkörper aneinanderzuschmiegen, und schließlich der Ragtime,
dessen Ursprung im Bereich der ungezwungenen Negermusik gesehen wurde
und den Strawinsky in die Kunstmusik einführte." Ein Zeug ist das!
   "Walzer als erster Paartanz": Im Mittelalter beispielsweise gab's
auch schon Paartänze. "Bei dem der Mann": Und sie? "Offiziell": Was
soll das sagen? "Im Bereich der ungezwungenen Negermusik gesehen wurde":
Was genau heißt das? Für wen wird denn hier gesprochen bzw. wer spricht
hier eigentlich? Was für diskussionsbedürftige Denkbilder stecken denn
hier dahinter? "Und den Strawinsky in die Kunstmusik einführte": Stimmt
das? Zum Thema oder Stichwort "Ragtime" fand ich z. B. die folgenden
(ersten) Hinweise: Scott Joplin, Treemonisha, Opera in Three Acts, 1911
(A Guest of Honor, A Ragtime Opera, 1903, unveröffentlicht, verschol-
len?); John Alden Carpenter, Concertino for Piano and Orchestra, 1915.
Es sollte sich rumgesprochen haben, in den USA wird auch "Kunstmusik"
(was immer das ist) gemacht. Und schließlich: Was für Ragtimes und Jazz-
wurzeln waren das eigentlich, mit denen sich Strawinsky in den Jahren um
1917/18 herum beschäftigte? Sind diese Formen wirklich dem "afroamerika-
nischen" Strang der Entwicklung zuzurechnen, falls eine Unterscheidung
überhaupt möglich oder sinnvoll ist?
   Fußnote: Es ist dringend anzuraten, sich schleunigst von dem Unwort
"Negermusik" zu trennen. Man kommt damit nämlich in gefährlich diskri-
minierende Regionen, weil das (einst ethnologisch, kultur-anthropolo-
gisch gängige) "Denk"gebilde "Musik der Wilden" (der savages, sauvages,
der Primitiven) mit ihm mindestens verschwistert und verschwägert ist.


DP, 9.7.2005



Anmerkung 4: Eine der Dran-vorbei-Fußnoten

   In Kirchmeyers 2002 erschienenem Strawinsky-Werkverzeichnis (hier K.
2002 getauft) entdeckt man in den "editorischen Bereichen", wo man auch
hinsieht, "Seltsamkeiten". Selbstverständlich verstärkt so was stetig
die Skepsis, selbst kleinsten Kleinigkeitsaussagen gegenüber.
   Sicherlich, das Buch bietet die Möglichkeit, vielerlei nachzuschla-
gen, doch für meine Arbeit - die sich eigentlich auf die Tonträgerfor-
schung konzentrieren möchte - ist das Verzeichnis mittlerweile eine im
wahrsten Sinn der Worte schauerliche Belastung geworden. Ich fürchte,
ich werde nie fertig damit, dieses "kommentierte Verzeichnis" zurecht-

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Intro 2002 ff.                                                 Seite A47
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zukommentieren, so nebenbei quasi. Doch dieses "quasi nebenbei" verlangt
trotz allem immensen Forschungs-, sprich: Arbeitsaufwand. Ein Faß ohne
Boden. Immer wieder fallen neue Unzulänglichkeiten auf, von denen unzäh-
lige zu vermeiden gewesen wären. Ja, das Buch ist eine Last, aber, ich
denke, es führt kein Weg drum rum, ob man will oder nicht, auf Mängel
hinzuweisen. Ich hoffe nur, daß sich das bei mir nicht zu einer gebets-
mühlenhaften Gewohnheit oder Abartigkeit auswächst. Hier also wieder
einer der 1000 und x möglichen Hinweise:
   Kapitel 30, Rag-time (zu diesem Werk siehe auch weiter oben), S. 209:
Es wird zur Schreibweise "Rag-time", so die Überschrift, und zu einer
weiteren im angehängten Titelvorspann, "Ragtime", per Sternchen eine
expertenhafte Erläuterung, eine "wissenschaftliche" Fußnote, angeboten,
diese lautet: "*Schon in der Erstausgabe steht Rag-time neben Ragtime."
   Das hört sich ganz unverdächtig harmlos an. Aber die Skepsis warnt
unablässig.
   Jetzt erst mal alles der Reihe nach: Mit der Überschrift ist, wie
angedeutet, der Titelvorspann verwoben, doch dies alles bezieht sich nur
auf die Ensemblefassung, auf die vermutliche oder angebliche Haupt-
fassung demnach. Was aber ist mit der überaus berühmten Klavierfassung,
der "Transcription pour piano par l'auteur"? Sie gibt es doch auch noch,
und was die Aufnahmenwelt anbelangt, nicht zu knapp. Außerdem: Deren
Edition erschien sogar VOR der Ensemblefassung. Also, wen wundert's?
Es stellen sich, wie gewohnt, Fragen ein:
   1) Was ist denn mit "Erstausgabe" gemeint? Die Erstausgabe(n, siehe
unten) der Klavierfassung? Oder gar die Klavierfassung an sich? Der
Erstdruck (die Erstauflage) der Dirigierpartitur, die der Studienparti-
tur?
   Wie schon gesagt, die Klavierfassung ist die Erstveröffentlichung,
doch verlegerisch gesehen, müßte man eigentlich erste Drucklegungsstufen
unterscheiden, wobei die Klavierfassung das "Glück hatte", zuerst zu
erscheinen, und sie steht denn auch in K.'s (unvollständiger und nicht
fehlerfreien) Auflistung "Ausgaben (Übersicht)" obenan. Somit könnte
"Erstausgabe", so die Fußnote, die Klavierfassung meinen, doch diese
Auslegung wird ausgerechnet durch die Fußnote verunklart, weil sie (im
Titelvorspann) mit der Ensemblefassung verbunden ist: "Rag-time* / pour
onze instruments - Ragtime* für elf Instrumente - Rag-time* for eleven
instruments..."
   2) In der Erstausgabe der Klavierfassung - als Bezug dient mir die
Kopie eines Exemplars, das einen autographischen Vermerk aufweist: "Le
premier exemplaire non numéroté [...] Igor Strawinsky / Genève / 27 I
20", wohl ein Vorausdruck für den Autor -, in dieser "Erstausgabe der
Erstausgabe der Erstausgabe" also steht auf der Titelseite (S. [I]), der
ersten Notenseite (S. 1) und der "JUSTIFICATION DU TIRAGE"-Seite (S.
[13]) RAG-TIME. Das wäre dann wohl die Schreibweise "Rag-time". Und
hierbei empfiehlt sich zu bedenken, daß das durchaus eine gewollte
Darstellung sein könnte, die schon rein optisch etwas verdeutlichen
sollte, nämlich "ragged", was zunächst unter anderem (und bezüglich der
Ragtime-Geschichte allgemein: interessanterweise) rauh, unregelmäßig,
holprig, zackig, unvollkommen, mangelhaft heißt, aber eben auch zer-
rissen, zerfetzt und dergleichen. Und vornehmlich mit diesen letzteren
Bedeutungen hänge offenbar, so steht es zumindest in den (wirklichen!)
Fachbüchern, die Begriffsbildung für den Tanz oder Stil Rag-time zu-
sammen: Synkopierung hätte man als "being ragged" verstanden, als eine
Art "Zerrissenheit", als ein "Auseindersein".
   Nun zur anderen, zur Schreibweise "Ragtime" (ohne Bindestrich), zu
sehen auf der vorderen Umschlagseite der Klavierfassung (aller klassi-
schen Ausgaben). Diese zeigt eine der berühmten Einlinien-Zeichnungen
Picassos (Banjo-Violine-Variante, weitere siehe unten), mit einer Titel-

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Intro 2002 ff.                                                 Seite A48
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gebung, die vom Maler selbst stammt (siehe dazu unten die Abbildung samt
Begleittext):

                       IGOR STRAWINSKY / RAGTİME

   Es dürfte also ohne große Umschweife einsichtig sein, daß die Les-
art auf dem Umschlag, "Ragtime", zunächst einmal nur etwas mit Picasso
zu tun hat. Und diese Auffassung legen auch weitere Entwürfe bzw. Fas-
sungen nahe, siehe [Robert Craft (Hg.)], avec Stravinsky, Monaco 1958,
Éditions du Rocher, Foto-Tafel [1] = Skizze, Banjospieler allein; Kunst-
museum Basel in Zusammenarbeit mit der Paul Sacher Stiftung Basel, Stra-
winsky / Sein Nachlass. Sein Bild., Ausstellungskatalog, Basel 1984, S.
[293], [294], zwei Fassungen, jeweils zwei Banjospieler. Auf allen
diesen Zeichnungen steht: RAGTİME, immer mit so etwas wie einem "großen
kleinen i" (hier: İ), wobei, genau genommen, das "RAGTİME" der Zeich-
nung auf Seite [294] des Basler Ausstellungskatalogs ungefähr so aus-
sieht:

                              RAGTİME

   Fazit: "*Schon in der Erstausgabe steht Rag-time neben Ragtime." ist
eine simple Fußnote. Reichlich zu simpel, denn es besteht doch wohl
etwas Diskussionsbedarf. Und wie gezeigt, geht's schon bei der zeichne-
risch, künstlerisch ausgestalteten Klavierausgabe los: Ob da wirklich
"Rag-time neben Ragtime" steht, ob wirklich beide Schreibweisen Gleich-
berechtigung beanspruchen können (bezüglich der Klavierfassung sollten
vielleicht zunächst nur frühe Drucke im Blickwinkel sein, denn die "11th
edition 1975" beispielsweise hat auf der ersten Notenseite "RAG TIME" -
und übrigens eine Absonderlichkeit reifster Sorte, darüber an anderem
Ort mehr). Der Deutlichkeit halber sei noch angefügt: Nur die Klavier-
ausgabe hat eine Picasso-Zeichnung (aber das steht auch schon im K.
2002). Im Übrigen bedenke man unbedingt: Es sollte bei aller Interpre-
tiererei rund um "mit oder ohne Bindestrich" nicht übersehen werden:
"rag-time" (mit Bindestrich) ist im Wörterbuch-Englisch Usus.
   Die Erstausgabe hat ein sehr großes, heute ungewöhnliches Format.
Maße des hier besprochenen Exemplars: Breite 27, Höhe 35 cm (Graphik:
23 x 28,5 cm). Dem Deckblatt folgen eine Titelseite (S. [I]), 12 Noten-
seiten und die oben genannte Seite [13]. Im K. 2002 hat die dort erst-
genannte Ausgabe die Maße: 26,9 x 34,3, Anzahl der Seiten: 12 (Beachte:
Die unmittelbaren Chester-Nachdrucke haben die Seite [13] nicht, und
spätere Ausgaben haben auch die Seite [1] = Titelseite nicht mehr,
Anzahl der Notenseiten: 12)
   Zum Rag-time-Kapitel im K. 2002 noch zwei Anmerkungen: 1. Die Be-
zeichnung "Transkription" taucht nirgends auf. Unterblieben ist demnach
auch eine Diskussion des Begriffs, eine Überprüfung auf dessen Richtig-
keit, Brauchbarkeit. 2. Oben wurde der Anfang des Titelvorspanns wieder-
gegeben. Den Zitatschluß bildeten drei Ersatzpunkte. Sie stehen für eine
russische Titelversion. Eine solche existiert aber in den üblichen, den
klassischen Ausgaben nirgends (das Verlagshaus ist seit 1920 Chester,
London, siehe unten den Begleittext zur Abbildung). Somit scheint dieser
russische Titel auch eine der Erfindungen Kirchmeyers zu sein, eine
jener philologisch bzw. dokumentarisch unerläuterten Titelgebungseigen-
mächtigkeiten, mit denen das Buch vollgestopft ist.






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Intro 2002 ff.                                              Seite A48a-1
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Strawinsky, Rag-time, Klavierfassung, Erstdruck 1919, Umschlag
Igor Strawinsky: Rag-time Klavierfassung, Erstdruck 1919 Umschlag (Titelseite: "COUVERTURE DE / Pablo Picasso") Verlagsangabe laut Picasso in etwa so: EDİTİONS DE LA SİRENE 12 R.LA BOËTİE PARİS Nicht nach Picasso, sondern laut Titelseite: ÉDITIONS DE LA SIRÈNE 12, RUE LA BOÉTIE, 12, PARIS VIIIe {*1} Nachdruck unter Chester mit © 1919 und © 1922: gleicher Umschlag Neuere Ausgaben, Chester © 1920 [sic]: Umschlag mit Verlagsangabe (statt der obigen) "CHESTER MUSIC", diese in nachempfundener Handschrift (nicht unbedingt eine Verfälschung, da die Titelseite mit der Angabe "COUVERTURE DE / Pablo Picasso" weggelassen wurde und die Signatur nur der Zeichnung zu gelten scheint).
{*1} In der Copyright-Angabe auf Seite 1: 12, rue de La Boétie, Straßenname nach dem Guide Général de Paris "L'Indispensable Paris par Arrondissement", 1974: rue La Boétie. DP, 6.4.2007 (Erstfassung), 1.10.2009 (Überarbeitung) Weiter [intro04]

Intro 2002 ff., Stand siehe Teil 10

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