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Intro 2002 ff.                                                 Seite A??
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Noch etwas Rag-time, diskographisch (2)

D) Weitere Enten

   Wer etwas diskographische Spätlese in den Adern hat, wird sich bei
den im vorangegangenen Kapitel berichteten Seltsamkeiten einen Gluckser
kaum verkneifen können. Die drollige Geschichte ist aber noch nicht zu
Ende. Machen wir also, zur Ordnung gerufen, gefaßten Gemüts weiter.
Allerdings ändert sich nun meine Rolle ein klein wenig insofern, als die
bislang ohne Scheu zur Schau getragene Sicherheit eine Spur von Vagheit
erfährt: Ich kann nun nicht mehr auf mein Ohr als Richter verweisen. Das
heißt, die Darlegungen beruhen auf Gesehenem, und man kann dabei nur
hoffen, daß im bloß Sichtbaren keine Tücken stecken, sonst entsteht wo-
möglich eine gehörige Schieflage. Sollte es so kommen, muß das mit Fas-
sung ertragen werden. Es war dann eben zumindest, so der hoffnungsvolle
Wunsch, ein klärender Beitrag.
   Als der größte Teil Frankreichs durch Hitlers Wehrmacht okkupiert
war, wurde im unterjochten Paris (Besetzung: 14. Juni 1940) Anfang 1941
eine Schallplattenfirma gegründet: Les Discophiles Français. Beachte:
Der Gründungsdatierungsversuch "c. 1935" auf der Seite "Ted Staunton's
78 RPM record label gallery" ist ein Fantasieprodukt. Aber nicht nur das
erstaunt. Das abgebildete Etikett (Recherche: Juni 2009) der "Disque
114" ("Face 5", Matrizennummer 5459), Tomas Luiz de Victoria (1535-
1698) [recte: Tomás Luis de Victoria (um 1548-1611)], [1] [= prima pars]
O Regem Coeli / 2 [= seconda pars] Natus est nobis, Ensemble Vocal M.
[Marcel] Couraud, stammt aus dem Album XXVI (4 30-cm-Platten, Disques
112-115, Matrizennmummern: 5457-5464 in unregelmäßiger Folge), und
dieses Victoria-Album, Titel: Motets, ist keine frühe Ausgabe! Es wurde
am 11. März 1948 aufgenommen (nach Michael H. Gray via DISMARC) und noch
im selben Jahr veröffentlicht (die Gramophone Shop Encyclopedia 1948,
erschienen spätestens im September diesen Jahres, enthält das Album
schon, zu DF-Listen siehe weiter unten).
   Les Discophiles Français: Ein "Kriegskind" also, wobei sich später
herausstellen wird, daß sich dieses "Kriegskind" zu einer Unternehmung
mit viel Schwung und Engagement entwickeln wird. Sie blieb zwar immer -
wie maßverpassende Großkopferte der Branche das gern zu benennen pflegen
- ein "kleines Etikett" (a "small label"), aber schon die wenigen Unter-
lagen, die ich dazu einsammeln konnte, zeigen, daß das Repertoire mit
der Zeit beachtliche Konturen erhielt. Eine Einschätzung, die nicht nur
die Quantität, sondern insbesondere die Werkauswahl wie auch die künst-
lerische Qualität betrifft.
   Zum letzteren Aspekt seien beispielhaft ein paar Namen genannt: Willi
Boskovsky, Dietrich Fischer-Dieskau, Maurice Hewitt, Lili Kraus, Quatuor
[Alfred] Loewenguth, Marcelle Meyer, Yves Nat, Pasquier Trio, Jean-
Pierre Rampal, Karl Ristenpart mit dem Orchestre de Chambre de la Sarre
(= Saarländisches Kammerorchester, 1953 gegründet, in den 1960er Jahren:
Kammerorchester des Saarländischen Rundfunks, siehe den Artikel über den
Saarländischen Rundfunk hier an anderem Ort) und schließlich das Quatuor
[Sándor] Végh.
   Auf jeden Fall ist Les Discophiles Français zu den klassischen "inde-
pendent labels" ("labels indépendants") zu zählen. Etikette, "abseits"
der großen Firmen, Marken und Konzerne: "unabhängig" eben, so das ehr-
fürchtige Wunschdenken, "nicht kommerziell" schwingt da treuherzig mehr
oder minder mit. Gleichwie, das alles heißt, Les Discophiles Français
wäre somit in einem Atemzug mit den berühmten amerikanischen "inde-
pendent labels" zu nennen, die im Jazz-Bereich entstanden, manche frü-
her, manche etwa gleichzeitig, manche aber auch erst viel später, so
(Nennung in alphabetischer Folge) Aladdin, Blue Note, Dial, Keynote,
Philo, Prestige, Savoy, Signature und viele andere (in Frankreich z.B.
Blue Star, nach dem Zweiten Weltkrieg, schon 1945, von Eddie Barclay
gegründet (nicht, wie im Web verbreitet zu lesen, 1949 oder so ähnlich).
   Das große Vorbild dieser "independents" war Commodore (Commodore
Records), von Milt [Milton] Gabler, dem Besitzer der New Yorker Laden-
unternehmung "Commodore Music Shops", 1938 aus der Taufe gehoben (erste
Aufnahmen im Januar), im selben Jahr noch einen Einblick in die schlich-
te, gleichzeitig komplexe und ästhetisch erhabene Kunst Lester Youngs
gewährend. Prez: Erhaben gegenüber dem Diesseits, eine ätherische Stimme
aus dem vielleicht sinnvolleren Jenseits. Doch schon der 29jährige ahnt
es: aber auch nur vielleicht.
   Commodore war nicht "America's first independent jazz record label",
wie in der New York Times behauptet wurde (Douglas Martin: Milton
Gabler, Storekeeper of the Jazz World, Dies at 90, NYT, 25. Juli 2001,
WWW-Fassung: with correction appended). Das Etikett wurde sehr bedeutend
und hatte eine Musterfunktion, das alles stimmt. In Frankreich begrün-
dete übrigens Charles Delaunay 1937, knapp ein Jahr bevor Commodore
entstand, die Marke Swing, mit ersten Aufnahmen im April. Und auf
"independents" ganz allgemein bezogen, kann man sagen, in Europa gab es
eine ganze Reihe derartiger engagierter Etikette, und das schon sehr
früh (weiter unten sind ein paar frühe französische Marken angegeben).
Doch es muß auch betont werden, daß eine solche Kategorisierung sehr von
der Definition abhängt und natürlich auch vom Entwicklungsstand eines
Etiketts. Heute sollte man den Begriff "independent label" vielleicht
nur noch dosiert oder gefiltert, auf jeden Fall aber vorsichtig verwen-
den, denn im Pop- und Rock-Bereich haben sich teilweise Entwicklungen
dieser Unternehmungsmöglichkeit bedient, die nur noch als "unabhängig"
im Sinne von "abgelöst" oder "bodenlos" (als im Grunde von allen guten
Geistern verlassen) aufgefaßt werden können.
   Auch entstanden oft genug aus einfachen Verhältnissen Plattenimpe-
rien. Im Jazz denke man an die Entwicklung des Konzertveranstalters und
Plattenproduzenten Norman Granz. "Impresario", so wurde er ehrerbietig
genannt. Eigentlich ähnelte das Verhalten dieses von der Börse herstam-
menden Ur-DJs einem selbtsverliebten "Groß-Maestro", einem sonderbaren
Swing- und Jazz-Mogul, der (nach raffiniert ausgedachten Anfängen) als
direkte Fortführung seiner Independents Clef und Norgran [sic] in der
zweiten Hälfte der 1950er Jahre in stürmischer Hast sein Über-Inde-
pendent-Etikett Verve aufbaute, sich selbst dabei zum Produkt von Welt-
geltung erhob: "Norman Granz presents..." war in den USA-orientierten
Industriestaaten rund um den Globus zu einem Marken-Bekenner-Banner
geworden. Kaum zu glauben, aber Realität, dieser Prägestempel bestimmte
in der Tat (so oder in ähnlicher Form) das Layout von Plakaten und
Programmen. Konzertante Granzsche Selbstinszenierungen, was sonst? Und
natürlich gehört hierzu ganz besonders der von Granz noch im Zweiten
Weltkrieg begonnnene Konzertzirkus "Jazz at the Philharmonic", der bei
allem Verständnis für die soziale und musikhistorische Situation einer
(wohl nur tiefenpsychologich begreifbaren) Groteske glich, vor allem
in der frühen Zeit. Im Grunde beginnen sich schon hier viele Unarten
auszubilden, die über weite Strecken die Pop-Industrie beherrschen
werden. Vermassung, Mammonismus, oft verbunden mit lärmend-berauschen-
der Primitivität, aber auch mit sich selbst widersprechender Pseudo-
Hochintelligenz, die allen Ernstes versucht, wirklich jedem ein X für
ein U vorzumachen. In Kunst und Kultur ein uralter Trieb übrigens.
Stichwort: Kitsch.
   Granzology, the poor Prez(ident) mittendrin - but lifting "up his
eyes to heaven" (King James Bible, John 17:1):

JATP, Helsinki 1953: 0:56 / 0:58 / 1:00 (http://www.youtube.com/watch?gl=DE&hl=de&v=YKlZ5sqL7YM, 27.1.2007; beachte: Musik und Bild haben oft nichts miteinander zu tun.)
Natürlich schwappten derlei Lebens- und Geschäftsvorstellungen auch nach Europa rüber. So entstand in Frankreich in den 1950er Jahren das Barclay-Königtum. Der Entwickler war der oben erwähnte Eddie Barclay, ein typischer Granz-Schüler ("Eddie Barclay présente..."), mit seinem Vorbild auch geschäftlich in Verbindung stehend (war aber im Gegensatz zu Granz Musiker und agierte, wiederum im Gegensatz zu Granz, auch in anderen Musikbereichen: Chanson, Pop, "Classique" usw., war zudem im Film zugange, Stichwort: Medien-Totalitarismus, spätestens seit Richard Wagner und seinem Gesamtkunstwerkgebaren in den Köpfen). Zweifellos, Musikindustrielle der Wiederaufbauzeit (- und dieser Art) hatten nicht nur betriebs- und volkswirtschaftliche Meriten, sie ermöglichten auch künstlerisch viel Positives, Nachhaltiges, dennoch ist da eine typische Oberflächlichkeit, ein Mangel an erdverbundener Weitsicht und kulturel- ler Tiefe ständig präsent ("présent", um im Zusammenhang zu bleiben). Ja, Götter waren sie einst. Irgendwann aber sollte man (und vor allem die diskographische Geschichtsschreibung) lernen, etwas genauer hinzu- sehen. Man sollte sie entgotten.
Kansas City Six, Lester Young, Commodore 509, 1938
Das independent label par excellence 8. September 1938 Commodore 509 The Kansas City Six Countless Blues, Take 1 (von 2) Tenorsaxophonist Lester Young auf der Klarinette Frühe Aufnahme einer wirkungsvollen elektrischen Gitarre Countless Blues, ein vielfaches Wortspiel: Zahllose Blues, Aufnahme ohne Count Basie Aufnahmeleitung: Milt Gabler Commodore Music Shops (nicht wie hin und wieder zu lesen: Commodore Record Shop) Was wie ein Untertitel aussieht, "(Ad Lib Jump Blues)", ist eine Angabe zur Autorschaft; sie fällt später bei LP- und CD-Wiederveröffentlichungen weg, stattdessen taucht "By Milt Gabler" o.ä. auf (es gibt weitere solche Fälle, siehe auch unten)!? Beachte: Noch mit dem Hinweis "Electrically Recorded", und auch immer noch mit verdoppelter Auslaufrille (rechts zu sehen, vgl. dazu die Anmerkung weiter oben) (Das Aufnahmedatum "27. September 1938", seit der 1973 von Gabler herausgegebenen 2-LP Atlantic SD 2-307 weitverbreitet, wird von der Brunswick/Vocalion-Matrizen- folge nicht gestützt. Auf dieser LP ist zudem dreimal das "By Milt Gabler" zu sehen, ergänzt durch eine Verlags- angabe: "Comreco [Music, Next Decade Entertainment Inc, New York, N.Y.], ASCAP". Eine Abfrage am 7.8.2009 bei ASCAP brachte für Countless Blues den "Title Code: 330406841", außerdem "Writers: GABLER MILTON / Performers: YOUNG L/KANSAS CITY SIX". Gabler ist mit 88 Titeln eingetragen. Sehr erstaunlich.)
Musicraft Album 37Musicraft Album 37, Logo
Noch ein Manhattan-Independent, 1936-1948 Musicraft Corporation, gegen Ende: Musicraft Records Inc. Begann mit "Klassik" (W. A. Mozart, Perole String Quartet), später alles: Pop, Swing, Blues (Leadbelly, 1939), Jazz (Dizzy Gillespie, Charlie Parker u.a.: Guild Musicraft-Sessions, 1945-1946) Hier: Johann Sebastian Bach, Toccatas and Fugues, Volume 2 Carl Weinrich Praetorius-Orgel, Westminster Choir College, Princeton, N.J. A Musicraft Album 37 (1120-1122, 78 UpM, 30 cm) Aufgenommen: 1939, wohl im Herbst; veröffentlicht Anfang 1940 Abbildung: Nachkriegsausgabe, Anfang 1948 Logo, Mixtur aus: Violine, Lyra, 4-Linien-Notensystem, Empire State Building, "M" wie Musicraft
Zu den Anfängen von Les Discophiles Français, sie liegen glücklicher- weise nicht in einem undurchsichtigen Dunkel, sowie zu den ersten Reper- toire-Schritten findet man weiter unten einige Informationen. Ein grober Umriß, mehr ist das nicht. Mehr kann es auch nicht sein, weil, wie schon angedeutet, meine Unterlagen hierfür eher dürftig zu nennen sind, und ich bisher mein Interesse für Les Discophiles Français nicht besonders gepflegt habe. Es erschöpfte sich beinahe darin, daß ich wußte, es waren unter der Ägide dieses "kleinen" französischen Etiketts Strawinsky-Auf- nahmen veröffentlicht worden: fünf Klavierwerke (siehe weiter oben die Aufstellung), eingespielt von Marcelle Meyer, veröffentlicht in der ersten Hälfte der 1950er Jahre auf Langspielplatten. Aus meinen Unter- lagen geht allerdings auch hervor, sehr deutlich sogar, daß sich im Zusammenhang mit den Veröffentlichungsdaten der fünf Aufnahmen erheb- liche Ungereimtheiten auftun. Und genau mit diesen Ungereimtheiten wol- len wir uns im Folgenden etwas beschäftigen. Im Supplément Janvier-Juin 1952 au Catalogue Général des Disco- philes Français / 33 Tours Longue-Durée [= Langspielplatte] steht der folgende Hinweis: Les disques suivants, annoncés au Catalogue Général : 37. - MOZART [...] 31. - SCHUBERT [...] 39/40. - SCHUBERT : Winterreise. 48. - STRAVINSKY : Sonate. - Petrouchka. - Ragtime. 29. - MILHAUD : Cantates. ne sont pas parus à ce jour. Prévus en rééditions d'enregistrements 78 tours, ils vont être réalisés à nouveau et avec les mêmes interprètes. Ils seront édités à partir de Septembre 1952 avec le bénéfice de la Haute Fidélité et de la VRAIE LONGUE DUREE. Dem ist doch wohl unzweifelhaft zu entnehmen, daß eine Strawinsky- Langspielplatte, eine "disque 48", zwar angekündigt wurde, aber noch nicht veröffentlicht ist. Gleichzeitig soll sie aber eine WIEDERver- öffentlichung von 78ern sein, von diesen aber findet sich in meinen nicht gerade wenigen Nachweisunterlagen allgemeiner Art kein Anzei- chen. Das verstehe einer. Vielleicht soll das heißen, es seien Aufnah- men eingespielt worden, die für eine Veröffentlichung auf 78ern vor- gesehen waren, nun aber durch neue, bessere Aufzeichnungen ersetzt werden sollen. Das ergäbe Sinn, aber nur irgendwie, wie das Folgende zeigen wird. Am besten ist, wir beginnen damit, uns anzuschauen, was im Hinblick auf erfolgte, propagierte oder obskure Veröffentlichungen Nachweismög- lichkeiten dazu zu sagen haben. Zuerst wäre natürlich wichtig, den erwähnten Catalogue Général her- anzuziehen, er liegt mir aber leider nicht vor. Greifbar sind allein fünf Repertoirelisten, zwei reale und drei abgeleitete, wobei die erste der realen, wiedergegeben auf der Rückseite eines Les Disco- philes Français-Albums, den Stand von Ende 1946 oder Anfang 1947 re- präsentiert (nach der ersten abgeleiteten Liste, die der genannten DF- Liste analog ist: spätestens Juni 1947) {*16}. Die zweite der abgelei- teten Auflistungen kann auf Anfang (spätestens März) 1948 datiert wer- den und entspricht vom erfaßten Bestand zum einen der dritten der ab- geleiteten Listen und zum anderen der zweiten der realen. Die zweite der abgeleiteten Aufstellungen stammt aus der Quarterly Record-List, enthalten in der Zeitschrift The Musical Quarterly, Ausgaben bis Juli 1948. Die dritte der abgeleiteten Listen wurde aus der im Spätsommer (spätestens September) 1948 erschienenen Gramophone Shop Encyclopedia of Recorded Music, ausgezogen; als letztmöglicher Stand der Encyclo- pedia ist der 1. Juni 1948 angegeben. Die zweite der realen, von DF verfaßten, Aufstellungen wurde 1949 im März/April-Heft der Schweizer Zeitschrift Pour l'Art als Annonce abgedruckt. Hierbei ist nicht aus- zuschließen, daß der Stand, Anfang (spätestens Februar) 1949, etwas vorzuverlegen ist, auf Ende 1948 (siehe zu allem {*16}). Alle diese fünf Auflistungen, die im übrigen den Repertoire-Stand bis etwa An- fang 1949 verläßlich absichern, sind (der Tonträgergeschichte gemäß) reine 78er Listen. Von einer Strawinsky-Platte keine Spur. Doch gibt es noch andere wichtige Nachschlageliteratur, z.B. den Guide Français du Disque, Numéro 1, 1946-1952 (Stand: spätestens März 1952, erschie- nen kaum vor September 1952) {*17}. Allerdings ist auch in ihm keine von Les Discophiles Français herausgegebene Strawinsky-Platte ver- zeichnet. Dem entspricht die Lage im Hauptband der WERM (Stand: April 1950) {*15}. Von irgendeiner 78er oder LP-Ausgabe keinerlei Anzeichen. Das ändert sich aber im ersten Ergänzungsband, dessen Informationsstand (Juni 1951) nominell ein Jahr vor dem des erwähnten Supplément liegt (Juni 1952) und wohl in zeitlicher Nähe des Catalogue Général anzu- siedeln ist. Hier ist denn auch eine Ausgabe DF 48 angegeben (gekenn- zeichnet mit # = Langspielplatte), Inhalt: Piano Rag-music, Sérénade, Sonata [sic] und Pétrouchka (als "ARR. PF." bezeichnet). Doch wie zu sehen, weicht diese Titelaufstellung erheblich von dem von Les Disco- philes Français im Supplément Janvier-Juin 1952 angegebenen, angeblich avisierten Inhalt ab: Piano-rag-music und Sérénade sind neu, der Rag- time fehlt. Allerdings korrigieren Clough und Cuming in ihrem dritten Ergänzungsband (Stand: im Wesentlichen Dezember 1955) die Titelangaben zu: Piano Rag-music, Serenade und Pétrouchka ("ARR. PF."), wobei eine Fußnote zu jedem Titel erläutert: "This entry corrects that for the same number in Supp. I - apparently never issued in the form there described." Eine Auffassung, die nicht ganz verkehrt zu sein scheint. Fassen wir bezüglich der Platte DF 48 das Bisherige im Vergleich zur Les Discophiles Français-Ankündigung zusammen: Die Sonate ist in der WERM nicht mehr mit dabei, die hier "neue" Sérénade jedoch nach wie vor und so auch die Piano-rag-music an Stelle des Rag-time. Wir bemerken: Der Austausch des Rag-time durch die Piano-rag-music kommt einem ver- traut vor, wie gewohnt, so möchte man sagen. Und welches Wort trifft am besten die ganze Sachlage bis jetzt? Ich denke: wunderlich. Wobei man nicht behaupten kann, den WERM-Diskographen sei die französische Szene der Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegszeit, insbesondere die der "klei- nen" Firmen (L'Anthologie Sonore, La Boîte à Musique, Les Discophiles Français, Lumen u.a.), ein Buch mit sieben Siegeln gewesen. Bevor wir nun zu ratlos werden, ein Blick auf Tatsachen. 1953 (zur Absicherung dieser Jahresangabe siehe {*18}) erschien in der Tat eine DF 48-Ausgabe, eine 25-cm-Langspielplatte, betitelt mit: Stravinsky / Pétrouchka [gemeint ist Strawinskys Transkription "Trois mouvements de Pétrouchka"] / Rag Time / Sérénade / par Marcelle Meyer // Diese Infor- mation entnehme ich einem Foto von der Vorderseite der LP-Tasche (siehe unten die Abbildung), wobei der Werkinhalt vielfach durch Händlerlisten bestätigt scheint. Deutlich zu erkennen ist auf der Abbildung auch so etwas wie ein Reihentitel: Collection des Discophiles Français // Von den Etiketten ist mir nur eines bekannt, und das auch nur insoweit, als die Marke "Les Discophiles Français", "Strawinsky" und "Pétrouchka" lesbar sind. Immerhin, nach allem was ich zusammentragen konnte, kann es nicht anders sein, es ist ganz offensichtlich neben der Sérénade der Rag-time mit dabei, auch wenn allem Anschein nach gegen diesen die WERM-Autoren irgendetwas einzuwenden hatten - doch auch anderswo spukt, wie wir gleich sehen werden, die Piano-rag-music durch die diskographi- schen Landschaften. Es ist mir nicht bekannt, wann genau im Jahr 1952 der erste Band der WERM (Hauptband, erster Ergänzungsband beigebunden) erschien, vermut- lich Juni oder Juli, spätestens aber August {*19}. Jedenfalls kam in Italien im Juli 1952 eine Strawinsky-Diskographie eines Carlo Marinelli heraus {*20}. Er verzeichnet die DF 48-Ausgabe und gibt als Titel an: "Piano rag music", "Tre movimenti di Petruska" und "Sonata" [sic]. Das sieht zwar nach einer "Datenauslese" aus dem ersten Ergänzungsband der WERM aus, doch wegen der Überschneidung der Erscheinungstermine ist das eigentlich unwahrscheinlich. Wo also hat Marinelli seine Daten her, besonders die "Piano rag music"? Eine theoretisch plausible Quelle wird in der Einleitung des Artikels genannt: "Disques". Das ist die franzö- sische Schallplattenzeitschrift (Dezember 1947 von dem Megaplattensamm- ler und Diskograph Armand Panigel gegründet), deren 1952er Bestandska- talog oben erwähnt wurde, in dem aber DF 48 nicht angeführt ist, und der im übrigen wohl nicht vor September 1952 erschienen ist, eher Okto- ber {*17}. Doch der Veröffentlichungstermin ist jetzt nicht das Thema, lenken wir vielmehr den Blick auf fragliche Redaktionseingänge. Hierbei ist davon auszugehen, daß für das Aprilheft gedachte konkrete Informa- tionen über Neuveröffentlichungen in den Katalog gelangt sind, da als Katalogredaktionsschluß für neue Platten der 31. März 1952 angegeben ist. Demnach blieben als Disques-Informationsquelle für den im Juli ver- öffentlichten Artikel Marinellis nur zwei Nummern übrig, womöglich nur das Maiheft. Wie man daran sieht, ist das alles zeitlich sehr knapp, wohl zu knapp, um hier einen einigermaßen plausibel begreifbaren Infor- mationstransport überhaupt annehmen zu wollen. Aber ganz abgesehen davon, es ist bislang nicht der geringste Hinweis aufgetaucht, daß in Frankreich vor 1953 eine DF-Strawinsky-Platte erschienen ist. Und eines soll bezüglich möglicher Quellen für den Marinelli-Artikel nicht uner- wähnt bleiben: Der italienische "Schwann", der Catalogo Santandrea, kommt erst 1954 auf den Markt (März/April 1954 = Nummer 1). Insgesamt also wiederum nichts als Verwunderung. Doch die Geschichte wird noch bunter. Es erscheint 1956 eine ver- hältnismäßig umfängliche Arbeit des spanischen Musikforschers Antonio Odriozola: La Discografia LP de Igor Strawinsky {*21}. Hierin ist für DF 48 als Veröffentlichungsjahr 1953 angegeben, dazu folgende Titel: "Tres tiempos de Petrusca (arr. piano) / Marcelle Meyer", "Piano Rag Music (piano) / Marcelle Meter [sic]" und "Serenata en la mayor [sic], para piano / Marcelle Meller [sic]". Stand hier bei den Titelangaben auch die WERM Pate? Der dritte Ergänzungsband würde gut passen, er scheidet aber aus, er erschien erst 1957. Bliebe nur der erste Er- gänzungsband, auch wenn in Odriozolas Aufstellung unter "Sonata para piano, 1924" DF 48 nicht angegeben ist. Nun wird aber Folgendes sehr überraschen: Odriozola führt für jeden der drei Titel an zweiter Stelle, und somit auch unter dem Jahr 1953, eine spanische LP an und zwar Telefunken TLE[.] 30.006. Man beachte: Hier hat, um es so zu formulieren, Odriozola eigentlich ein Heimspiel. Gleichwie, es bleiben Fragen: Ist wirklich auf dieser LP statt des Rag-time die Piano-rag- music? Könnte in der Bestellnummer die einleitende "30" nicht 30-cm-LP bedeuten? Man erinnere sich, die DF 48 ist eine 25-cm-LP. Wie man sieht: Unklares, Ungereimtheiten, Fragen über Fragen. Man wird es nicht glauben wollen, aber 1955 oder 1956 (frühester Nachweis in meinen Unterlagen: April 1956) veröffentlichte Les Disco- philes Français eine 30-cm-LP, die ALLE oben erwähnten Werke enthält, DF 163, Titelgebung der Tasche (es steht nur ein Foto der Frontseite zur Verfügung, siehe unten die Abbildung): Strawinsky / Petrouchka - ragtime - sérénade / piano rag music - Sonate / par Marcelle MEYER // In die WERM, in deren dritten und letzten Ergänzungsband von 1957 (Stand: im Wesentlichen Dezember 1955), ist diese LP nicht mehr hin- eingekommen. Das ist schade, denn es wäre sicherlich von Interesse gewesen, zu sehen, wo Clough und Cuming denn nun den Rag-time und die Piano-rag-music eingeordnet hätten, und auch: ob sie die Aufnahmen der Stücke Sérénade und Pétrouchka auf DF 48 (1953) mit denjenigen auf DF 163 gleichgesetzt hätten oder nicht. Denn die WERM kennt selbstverständlich den Fall der Neueinspielung. Einer ist mir sogar im Bereich des Etiketts, um das es hier hauptsächlich geht, aufge- fallen: Les Discophiles Français. Von den "Six Concerts en Sextuor" (Rameau) wurde 1941 unter Maurice Hewitt eine Gesamtaufnahme einge- spielt (Album I, 6 Platten), wobei man diese 78er Fassung dann später in der beginnenden Langspielplatten-Ära für eine "rückwärts nachnumerierte" LP, DF 1 (DF = Präfix zahlreicher, vor allem früher LPs), nicht verwendete. Man spielte stattdessen, wieder unter Hewitt, 1952 eine Neuaufnahme ein, ganz im Sinne des Hinweises, der oben aus dem Supplément Janvier-Juin 1952 zitiert wurde. Die nötige Unter- scheidung findet man denn auch in der Tat in der WERM im zweiten Supplement-Band bei der Angabe der LP DF 1 vermerkt, und zwar mit dem Kürzel "n.v." (= new version) (zur 78er Ausgabe der "Six Concerts en Sextuor" siehe weiter unten, Wiederveröffentlichung der LP-Aufnahme auf der 2-CD Cascavelle VEL 3092, Schweiz 2006).
Les Discophiles Français, DF 48, Stravinsky, 1953, Tasche, Fassung B, vorneLes Discophiles Français, DF 163,  Strawinsky, 1955, Tasche, vorne
Auf Leinen: Stravinsky und Strawinsky Les Discophiles Français 25-cm-LP DF 48, 1953 30-cm-LP DF 163, 1955 {*22}
Les Discophiles Français, DF 48, Strawinsky, 1953, Tasche, Fassung C, vorne
DF 48 Unscheinbare Layout-Variante (Späterer Druck, Nachdruck, Fassung C) (Fassung B siehe oben links; die Erstausgabe = Fassung A hat den Reihentitel "Collection des Discophiles Français" nicht.)
Den rund um DF 48 und DF 163 teilweise doch sehr geisterhaften "Tatsachen" sei noch ein weiteres Gespenst (oder Gespinst?) hinzuge- fügt. Es ist oben darauf hingewiesen worden, daß der dritte Ergän- zungsband der WERM für DF 48 die drei Werke "Piano Rag-music", "Sere- nade" und "Pétrouchka" anführt, wobei, nach allem was bis jetzt be- kannt ist, die Angabe der Piano-rag-music für diese Ausgabe als höchst zweifelhaft angesehen werden muß. Doch die WERM vermerkt im gleichen Band zu allen drei Stücken, zusätzlich zu DF 48, die spätestens 1954 erschienene Ausgabe der Haydn Society: HSL 113. Die Haydn Society, eine kleine US-amerikanische Plattengilde, der berühmten Concert Hall Socie- ty nachgebildet, übernahm, wie das bei ganz frühen LPs schon von Vox gehandhabt wurde, von Les Discophiles Français LP-Editionen. Und nun könnte eine Erklärung für den Nachweis in der WERM hierin zu suchen sein, daß als Unterlage eine Erfassung gedient hatte, die im September 1955 in der Zeitschrift Notes abgedruckt ist {*18}. Hier werden für HSL 113 als Inhalt in der Tat "Petrouchka - suite of three movements", "Se- renade" und last but not least die "Piano rag-music" angeführt, was sicherlich irgendein Mißverständnis ist, denn nicht nur die Plattenin- formation widerspricht dem eklatant, auch die Erfassung der Library of Congress ist dieser d'accord: "Three movements from Petrouchka", "Sere- nade" und "Ragtime". Und genau das sind auch, wie wir gesehen haben, die Stücke, die auf dem Cover der DF 48 angegeben sind. Daß der Eintrag der LoC die Ausgabe HSL 113 als eine 30-cm-LP beschreibt ("12 in."), sei noch angemerkt. Und das stimmt auch, es ist kein Erfassungsfehler, auch wenn das französische Original DF 48 eine 25-cm-LP ist. Ein Wider- spruch, der uns an den oben behandelten Fall der spanischen Telefunken TLE[.] 30.006 erinnert. Aber machen wir uns klar: Wir sind nicht mehr in er 78er Ära, als noch Matrizen verschickt wurden, nun arbeiten die Firmen mit Tonbändern und die Platte ist ein Derivativ davon.
Haydn Society, HSL 113, Stravinsky, Marcelle Meyer 1954, Tasche, vorneHaydn Society, HSL 113,  Strawinsky, Marcelle Meyer, 1954, Etikett, Seite 1
Haydn Society HSL 113, 1954 Collection Discophiles Français
Nun zu Aufnahmejahren, wie sie im Internet aufzutreiben waren, und zwar im Zusammenhang mit der schon oben erwähnten, von der EMI 1992 herausgegebenen 6-CD-Box: Les Introuvables de Marcelle Meyer [Vol. 1]. Werk Jahr Trois mouvements de Pétrouchka 1953 Piano-rag-music 1955 Rag-time 1955 Sérénade en la 1955 Sonate 1955 Wer sich durch den oben beschriebenen Irrgarten der Nachweise hin- durchgearbeitet hat und das eine oder andere im Gedächtnis behielt, wird sofort stutzen: schon wieder Verqueres und Widersprüche. So steht z.B. nach allen bislang vorliegenden Materialien fest, daß Les Disco- philes Français 1953 die 25-cm-LP DF 48 veröffentlichte. Sie enthielt nicht nur "Pétrouchka" (= Trois mouvements de Pétrouchka), sondern eben auch den Rag-time und die Sérénade en la. Erinnert sei auch an die oben erwähnte Ausgabe der Haydn Society HSL 113, die spätestens 1954 erschien; sie hat, zumindest der Beschriftung nach, den gleichen Inhalt wie die DF 48. Und da bleibt nur festzustellen: Nach dem, was die Liste zeigt, dürften zumindest bezüglich der Stücke Rag-time und Sérénade Zweifel an der Richtigkeit der Jahresangabe 1955 angebracht sein. Nun würde es aber nicht erstaunen, wenn wir es mit mindestens drei Aufnahmesitzungen zu tun hätten. Wahrscheinlich eine Ende der 1940er Jahre für Aufzeichnungen, geplant zur Veröffentlichung auf 78ern. Eine zweite in der zweiten Hälfte des Jahres 1952, anberaumt, um die neuen Vorteile Langspielplatte und High Fidelity nutzen zu können. Man erin- nere sich hier an den oben zitierten Hinweis aus dem "Supplément Jan- vier-Juin 1952 au Catalogue Général des Discophiles Français". Läßt er nicht, beim Wort genommen, in der Tat an zwei Sitzungen denken? Wie anders soll man "... ne sont pas parus à ce jour. Prévus en rééditions d'enregistrements 78 tours, ils vont être réalisés à nouveau..." verstehen? Auf jeden Fall aber fand (auch) eine Sitzung am 2. und 3. Mai 1955 statt. Diese genaue Datierung liefert Michael Gray {*23} in seinen in Arbeit befindlichen Online-Diskographien: 1) "Pathé LP", wiedergegeben auf der Web-Seite "The AHRC Research Centre for the History and Analy- sis of Recorded Music (CHARM)", und 2) MGR-Erfassungen (MGR = Michael Gray) in der DISMARC-Datenbank {*24}. Gray nennt in seiner Erfassung nur eine einzige Ausgabe und zwar die uns schon geläufige Les Disco- philes Français DF 163. Bezüglich der Stücke gibt er leider nur "STRA- VINSKY / Piano works" an. Doch immerhin: "Works", das ist ein Plural. Wer aber geht für zwei derart kurze Stücke wie den Rag-time und die Piano-rag-music für zwei Tage in ein Aufnahmestudio? Es ist also die Annahme sicherlich nicht abwegig, daß der Einspielungsplan anders aussah, zumal offensichtlich ein Aufnahmenprojekt vorlag, denn es wurden auch Stücke von Emmanuel Chabrier eingespielt, und zwar am 28. April und 2. Mai (Internet und Gray via DISMARC). Ort der Handlung war im übrigen die Salle Adyar, ein Theater 1914 im "Italienischen Stil" erbaut, gelegen in der Nähe der Seine, des Champs de Mars und des Eiffelturms (4, square Rapp, Paris, 7ème arrondissement, ca. 385 Sitz- plätze). Eine sehr beliebte und bekannte Aufnahmelokalität. Die Home- page unterdrückt den berechtigten Stolz nicht: "avec une acoustique exceptionnelle". Gray hat aber in DISMARC noch etwas ganz Besonderes zu bieten. Er gibt für "Petrouskha - Trois mouvements" das Datum 19. Mai 1949 an (Aufnahmeort: Paris, Salle Chopin). Eine Bestellnummer ist nicht angeführt, dafür aber vier Matrizennummern: GCP 177, GCP 178, GCP 179 und GCP 180. Aus diesen Daten ergibt sich manches Merkwürdige. Im Verlauf dieses Beitrags wurde immer wieder der Blick auf den "Supplément Janvier-Juin 1952" gelenkt, wobei nur der zu Beginn zitierte, reichlich diffuse Hinweis es ist, der uns so sehr inter- essiert. Im Anschluß daran stellt sich nun die Frage: Sollte sich das Datum 19. Mai 1949 auf in diesem Supplément indirekt angesprochene 78er Aufnahmen beziehen? Wir sahen oben aber auch, daß für die Trois mouvements de Pétrouchka als Aufnahmejahr 1953 eingesammelt wurde. Doch ganz abgesehen davon: Wann entstanden denn der Rag-time und die Sere- nade auf der spätestens 1953 erschienenen DF 48? Nächste Frage, reich- lich irritiert: Wieso gibt es für die Trois mouvements de Pétrouchka vier Matrizennummern? Ist das ein die Vermutung nährender Hinweis da- hingehend, daß 1949 neben diesem Werk noch Weiteres aufgenommen wurde? Wie zu sehen, die Verwirrung kann nicht verworrener sein. Über YouTube war es einst möglich (so noch am 13. April 2009), eine ganze Reihe Videos anzusehen, die als Soundtracks Einspielungen von Marcelle Meyer aufwiesen, mit dabei waren die oben genannten Strawin- skyschen Werke, also auch das Verwechslungspärchen Rag-time und Piano- rag-music, diesmal aber korrekt betitelt. Die Klanqualität war sehr gut. Jedenfalls war allen fünf Aufnahmen anzumerken, daß sie mit Sicherheit nicht aus der 78er Ära stammen, sondern im Tonbandzeitalter entstanden sind, dessen Aufblühen die 1958 verstorbene Marcelle Meyer ja noch mit erleben konnte. Und daß es damals schon ein modern zu nennendes Klangbild gab, sollte eigentlich nicht verwundern, denn in Fachkreisen ist es kein Geheimnis, daß schon Anfang der 1950er Jahre, also noch in der Mono-Ära, eine hohe Qualität ohne weiteres möglich war, vorausgesetzt es wurde darauf kompromißlos Wert gelegt. Nicht umsonst tauchten damals solche Begriffe auf wie High Fidelity oder ffrr = Full Frequency Range Recording (englische Decca). Quellenan- gaben waren den Videos zwar nicht beigegeben, aber die Annahme ist wohl richtig, daß es sich um die Les Discophiles Français-Aufnahmen handelte, von CD-Wiederveröffentlichungen (EMI) runterkopiert. Andere moderne Aufnahmen dieser Stücke mit Meyer, etwa Rundfunkaufnahmen, sind derzeit auch nicht auf dem Markt, existieren wohl auch nicht. Marcelle Meyers Strawinsky-Interpretationen sind einfühlsam musi- kalisch, wissend, ausgesprochen geschmackvoll, präzise, aber nicht metrumgefesselt. Zu hören ist Authentizität und Souveränität. Die Künstlerin weiß, daß Strawinskys Musik auch mit einem lyrischen, etwas träumerischen Anflug wirkungsvoll klingen kann. Und handwerk- lich hat sie überhaupt keine Mühe, das zu erreichen. Somit wird wieder einmal beispielhaft verständlich gemacht, rhythmische Stücke müssen keineswegs im Holzhammermodus klotzig, kantig oder gar grob und ungeschlacht vorgetragen werden. Der Rag-time ist Meyers Meister- stück: Sie macht dessen Herkunft farbig und plastisch deutlich. Die Aquarellklänge des Originals, Scott Joplin, lassen sich gut aufspüren und nachempfinden, etwa solche aus dem erst vor 20 oder 30 Jahren zum Welthit gewordenen The Entertainer von 1902. Und aus genau diesem Jahr gibt es übrigens von Joplin auch einen Ragtime, der in der Tat so heißt: The Ragtime. Vielleicht ist noch von Interesse, darauf hin- zuweisen, daß Marcelle Meyer Strawinsky persönlich kannte, so gehörte sie u.a. zu den vier Pianisten, die an der Uraufführung des wagemuti- gen Rhythmus-Werks "Les Noces" mitwirkten (Paris, Théâtre de la Gaie- té Lyrique, 13. Juni 1923, Dirigent: Ernest Ansermet, vgl. dazu Walter Eric White, Stravinsky, The Composer and his Works, London 1966, zweite, erweiterte Ausgabe 1979). Von Weltvorstellungen getrieben, die zunehmend einem ubiquitär exi- stierenden psychopathologischen Mammon- und Nützlichkeitswahn ähneln, ist auch die Marcelle Meyer-Überlieferung nicht verschont geblieben, ein krasser Gegensatz zur bescheidenen Lebensart der Spielerin. Nun droht die mit Recht entstandene Erinnerung an sie ein Opfer einer maßlosen Ikonisierung zu werden. Marcelle Meyer: Eine neue Kultfigur für Sammlerkreise. Dem sei unmißverständlich entgegnet, und das gilt analog auch für zahllose andere Fälle: Meyersches Hochniveau findet man heute an jeder Musikhochschule. Man kann es nicht deutlich genug sagen, Star- und Olympiagetue ist etwas, das im Ausdrucks- und Dar- stellungswesen so unsinnig ist wie ein Kropf. Dient zudem meist nur irgendwelchen sekundären Absahnern. E) Materialmangel, Fazit, Ausblick - und eine dumme Frage Die Quellenlage rund um Les Discophiles Français sieht, wie schon geklagt, düster aus. Und um nun zunächst einmal auf der Nachweisseite weitere, vor allem treffende und verläßliche Einzelheiten herauszufin- den, wären seltene zeitgenössische Materialien nötig, die, soweit zu ermitteln, in deutschen Bibliotheken nicht vorhanden sind, ja selbst in Frankreich selten sind. Dazu zählen u.a. die Zeitschrift "Revue Disques" und die eine oder andere frühe Ausgabe des Katalogs "Disques de Longue Durée" (1953-1961?). Gerade dieser "Catalogue Complet Permanent", Vor- läufer des bekannten und für Diskographen hilfreichen "Diapason Cata- logue Général" (1964 ff.), könnte von Bedeutung sein, so vielleicht die Numéro 6 = Noël 1954. Genauso wichtig wie Veröffentlichungsnachweise wäre natürlich, eine fundierte Meyer-Diskographie zur Hand zu haben. Soweit Informationen aus dem Internet eine Einschätzung erlauben, bietet offenbar die oben schon erwähnte 17-CD-Box "Marcelle Meyer / Ses enregistrements 1925– 1957" zu den Aufnahmen ausführliche Daten. Desweiteren soll das reich bebilderte Buch (43 Seiten) zu der im November 2005 erschienenen 2-CD- Ausgabe "Marcelle Meyer / Hommage", Tahra (F) TAH 579/580, eine "com- plete Marcelle Meyer discography by René Quonten" (Internet-Info) ent- halten. Einen kostengünstigen Zugang zu diesen beiden Diskographien sehe ich zur Zeit nicht. Enten wurden in den Überschriften angekündigt. Wie ersichtlich, es kamen etwas füllige zum Vorschein, fast schon Gänse. Und man vergesse nie: Es ist nicht unmöglich, daß bei Plattenausgaben Werke und Aufnahmen vertauscht werden, entlegene Verwechslungen vorkommen, ganze Aufnahme- sitzungen völlig aus dem Blickfeld geraten. Es gibt alles Mögliche, vor- schnell annehmen sollte man derlei jedoch nicht. Doch: Ganz gleich wie es weitergeht, die Vorahnung, daß nicht alles so ist, wie es auf den ersten Blick hin zu sein scheint, ist da. Und es ist die Frage, ob die von EMI Classics zur Ausgabe "Marcelle Meyer / Ses enregistrements 1925–1957" (Details siehe oben) werbewirksam verbreitete (und im Web überall nachweisbare) Auffassung, es lägen nun Marcelle Meyers "complete studio recordings 1925-1957" vor, vielleicht doch etwas zu vollmundig ausgefallen war. Weitere solcher Sprüche im Web: "Marcelle Meyer's complete EMI recordings", "Intégrale des Enregistrements de Studio", "Intégrale des enregistrements 1925-1957", "L'intégrale: Ses Enregistrements 1925-1957" und gar "Intégrale Marcelle Meyer" (Stand: April 2009). Die diskographische Arbeit wird es hoffentlich eines Tages besser wissen. Zusammenfassung und Ausblick: Es ist damit zu rechnen, daß zumindest die Aufnahmen des Rag-time und der Sérénade der 1953er Les Discophiles Français DF 48 nicht mit den Aufnahmen dieser Stücke, die sich auf der 1955/1956er DF 163 befinden, identisch sind. Doch ganz abgesehen davon stellt sich längst die Frage: Was eigentlich ist denn auf den CDs so drauf, nun ganz genau? Sind es wirklich diejenigen Einspielungen, die genannt bzw. angenommen werden? Und hier ist zu ergänzen, daß neben den beiden im Text genannten CD-Ausgaben noch eine dritte erwähnt werden sollte, die ebenfalls von EMI Classics (Frankreich) veröffentlicht wurde: LES RARISSIMES DE Marcelle Meyer / Chabrier / Stravinsky, 2-CDs, 351825 2, erschienen im März 2006. Auch dieses Album enthält die fünf Titel, die im Zusammenhang mit Les Discophiles Français bislang aufge- taucht sind: Trois mouvements de Pétrouchka, Rag-time, Sérénade en la, Piano-rag-music und Sonate (1924). Weiter [intro08]

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